Sie heißt Helga Sofie Josefa, ist 85 Jahre alt und hat seit kurzem über 20.000 Follower auf der Gaming-Plattform Twitch. Nachdem YouTube-Superstar “Gronkh” den Kanal der “Marmeladenoma”, wie sie sich nennt, empfohlen hatte, erobert sie die Herzen der Nutzer im Sturm. Ich habe mit der Marmeladenoma gesprochen und mir die Geschichte der wahrscheinlich ältesten Twitch-Streamerin der Welt erzählen lassen.
Als die “Marmeladenoma” am Freitag, den 6. Januar, ihren Stream auf Twitch startet, ahnt sie nicht, dass dieser Abend ihr Leben verändern wird. Zunächst ist alles wie immer. Ihr 15-jähriger Enkel Jannik hat sich wie üblich um die Technik gekümmert und den Stream vorbereitet. Heute liest sie “Der kleine Muck” vor, wie in den Wochen zuvor haben zwischen 300 und 500 Nutzer eingeschaltet. Dann kommt Gronkh. In seinem eigenen Stream schaltet er rüber zur Vorlesestunde der Marmeladenoma, um seinen Fans mal “die liebe Omi” zu zeigen. Eine Stunde später ist aus der lieben Omi plötzlich eine kleine Internetberühmtheit geworden.
Ein paar Tage später erreiche ich die Marmeladenoma per Telefon. Ihren vollständigen Namen möchte sie nicht verraten. Was sie verrät: Sie ist 85 Jahre alt und lebt in Ettlingen in der Nähe von Karlsruhe; man hört den badischen Einschlag in ihrer Stimme. Seit 13 Jahren ist sie Witwe und jeden Freitag kommt ihr Enkel Jannik zu ihr zu Besuch. Er war es auch, der die Marmeladenoma überzeugte, es doch mal mit Twitch zu probieren. Der Teenager entspricht so ziemlich dem durchschnittlichen Twitch-Nutzer und kennt sich dementsprechend aus. Sie könne doch Märchen vorlesen, so sein Vorschlag. Das habe ihm auch immer gefallen. Er kümmert sich um die Technik, Oma um die Geschichten. “Naja, man es ja mal probieren”, dachte sich die Marmeladenoma. Und ging davon aus, dass dieses Experiment schnell wieder vorbei sein würde. Das war vor einem halben Jahr.
Eigentlich ist Twitch die weltgrößte Plattform für Live-Computergaming. Laut der letzten offiziellen Angabe von Twitch gibt es derzeit 1,7 Millionen aktive Streamer. Fast zehn Millionen Menschen schauen ihnen täglich zu, wie sie League of Legends, Dota 2, Hearthstone, Minecraft und diverse andere Spiele zocken. Seit etwas mehr als einem Jahr ermutigt Twitch nicht nur Gamer, ihre Arbeit live auf Twitch zu zeigen. “Twitch Creative” heißt das Projekt, bei dem Zeichner, Bastler, Programmierer und andere Kreative ihren Arbeitsprozess zeigen können. Das hat zu teils absurd anmutenden Genres geführt, wie zum Beispiel “Social Eating”. Dabei zeigen Menschen live wie sie, nun ja, essen. Sich via Twitch Märchen vorlesen zu lassen, klingt vor diesem Hintergrund fast schon zu banal. Aber es funktioniert.
“Die Menschen sind ausgehungert nach Zuneigung”, gibt die Marmeladenoma als Grund an, warum die Zuschauer von Anfang an positiv auf ihren Kanal reagiert hätten. Das bestätigen die Kommentare auf ihrem YouTube-Kanal, den Enkel Jannik ebenfalls für seine Oma anlegte; ebenfalls ganz professionell mit Kanaltrailer und richtigem Banner. Da schreiben die Nutzer von verstorbenen oder kranken Großeltern, die ihren Enkeln nicht mehr vorlesen können. Die Marmeladenoma als Ersatzoma für eine Generation, die das Modell “behütete Großfamilie” bestenfalls noch von alten Fotos und Erzählungen kennt. Die Marmeladenoma hingegen wuchs mit sieben Geschwistern auf einem Bauernhof auf, hat eigene Kinder, Enkel und Urenkel. Bis heute kocht sie jeden Sonntag für die Familie, zehn Leute versammeln sich dann um ihren Tisch. Kein Wunder, dass sich viele Nutzer neben den Märchen auch einfach Geschichten aus der Kindheit von der Marmeladenoma wünschen. Ein bisschen heile Welt zwischen Ego-Shootern und Fantasykrachern.
Die Welt der Marmeladenoma ist allerdings erstmal aus den Fugen geraten. “Gut, dass ich Nerve’ wie breide Nudeln hab’”, sagt sie im badischen Dialekt und lacht. Die braucht sie jetzt auch. Dem ein oder anderen war die Twitch-Seniorin zwar schon aufgefallen. Doch bis jetzt hielt sich die Aufmerksamkeit in Grenzen. Das hat sich nun radikal geändert. Nicht nur, dass dank der Unterstützung von Gronkh die stolze Summe von 4.500 Euro an Spenden auf ihrem Twitch-Konto einging. Auch die Nutzerzahlen auf den Kanälen der Marmeladenoma sind explodiert. Auf Twitch gewann sie in den vergangenen Tagen 21.322 Zuschauer dazu. Die Marmeladenoma dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit eine der ältesten, wenn nicht die älteste Streamerin auf der Plattform sein, wo schon Über-30-Jährige als Exoten gelten (bei meinen Recherchen stieß ich nur auf diesen Streamer, der 62 Jahre alt ist.) Auch ihr YouTube-Kanal gewann nach dem Shout-Out von Gronkh 63.000 Abonnenten an einem Wochenende dazu. Bei dem hat sie sich inzwischen per Videobotschaft bedankt und auch mit diesem Clip schon mehr als 900.000 Aufrufe generiert.
Der Hype ist also da und wird sicher noch eine gewisse Zeit anhalten. Was sie mit dem Geld machen wird, weiß die Marmeladenoma übrigens noch nicht. Eine Traumreise nach Tirol, die sie eigentlich immer machen wollte, wird aus gesundheitlichen Gründen wohl nicht möglich sein. Wahrscheinlich wird ein Teil der Spenden in bessere Ausrüstung investiert, also ein neuer Streaming-PC, bessere Kamera und Stativ. Die Zuschauer können sich also noch auf viele weitere Märchenstunden auf Twitch mit der Marmeladenoma freuen.
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