Ich weiß nicht mehr genau, wann ich begann, Nachrichten zu lesen. Ich denke, es wird so um 1990 rum gewesen sein. Damals fiel die Mauer und Deutschland wurde Fußballweltmeister, es passierten also durchaus Dinge, die selbst ein Achtjähriger zumindest halbwegs interessant gefunden hat. Die Erinnerungen an diese Zeit sind schemenhaft und voller Lücken; nur unzureichend aufgefüllt mit Archivbildern, wie die mit Frosch-DNA ergänzte Gen-Sequenz eines geklonten Dinosauriers. An eine Sache erinnere ich mich dennoch: Ich versuchte immer, als erster wach zu sein, um die Zeitung reinholen zu können. Nur so hatte ich eine Chance, vor meinem Vater den Sportteil lesen zu können. Am Frühstückstisch musste ich mich hinten anstellen.
Ja, Kinder, so war das früher, kurz nach der Wende. Wir hatten ja nichts damals. Zumindest kein Internet. Erst recht keine Smartphones. Und schon gar kein Snapchat. Die Kids von heute sind nicht mehr darauf angewiesen, dass Papa ihnen am Frühstückstisch ein paar Reste der Zeitung überlässt. Sie haben spätestens mit elf Jahren ein Smartphone. Und damit haben sie die Macht, selbst zu entscheiden, welchen Informationen sie sich zuwenden wollen. Und damit haben Journalisten die Pflicht, sich dorthin zu begeben, wo diese Kids sich ihre Informationen herholen. Auch wenn das heißt, jetzt Snapchat benutzen zu müssen.
Ich war ja nicht nur den Lesegewohnheiten meines Vaters ausgeliefert, die dazu führten, dass ich meist mit dem langweiligen Lokalteil vorlieb nehmen musste. Noch dazu war ich von der Nachrichtenauswahl einiger Journalisten der WAZ abhängig. Themen, die diese für mich aussortierten, erreichten mich gar nicht. Die Journalisten hielten das Zepter der Information in der Hand. Schmeckte dem darbenden Volk das Angebot nicht, weil es oft doch arg trockenes Brot war, nun, dann konnte es ja Kuchen essen. Oder, wie wir im Pott zu sagen pflegten: “Et wird gegessen, wat auf’n Tisch kommt!”
Diese Rollenverteilung hat sich umgekehrt. Die Menschen und vor allem junge Menschen können und wollen heute selbst entscheiden, was für sie wichtig ist. Und für die meisten Teenager kommt an erster Stelle natürlich das persönliche Umfeld. Was machen meine Freunde gerade? Womit beschäftigen die sich? Worüber denken sie nach? Kein Wunder also, das Snapchat gerade so erfolgreich ist. Kein Social Network treibt die Individualisierung der Kommunikation so auf die Spitze. Es ist eine andere Welt, in der es nicht darauf ankommt, alles zu sehen und zu lesen, was einem über die App geschickt wird. Wichtiger ist die Reaktion darauf. Es ist eine völlig neue Art, Medien zu benutzen. Unverständlich für alle, die nicht damit aufwachsen und darum den von den Nutzern erschaffenen Code dieses Mediums nicht entziffern können.
Genauso war es im übrigen auch mit YouTube vor ein paar Jahren. Computerspielvideos? Schminkanleitungen? Songparodien? Wer guckt das? Und warum? Und was zum F ist ein Gronkh? Ehrlich gesagt: Ist doch egal. Die Kids haben es halt gemacht. Weil es ging, weil es alle gemacht haben, weil gerade kein Erwachsener geguckt hat. Nun ist YouTube ein Stück weit selber erwachsen geworden. Es wird Teil unserer Populärkultur. Und fängt damit an, langweilig zu werden. So wie Facebook langweilig geworden ist, seit auch Mama dort Bilder von ihrer Urlaubsreise postet. Nun sind halt Instagram und Snapchat da. Vor allem Snapchat.
Natürlich kann kein normaldenkender Mensch die App verstehen. Was dort passiert, ist sinnlos, völlig banal, wenn nicht sogar hirnverbrannt. Es ist das perfekte Medium für einen Teenager. Als Erwachsener hat man jedes Recht zu sagen: “Das ist nicht meine Welt. Das gucke ich mir nicht an.” So wie Sebastian Baumer das getan hat. Oder Christian Jakubetz. Wobei letzterer auch gleich zugibt: Als Journalist habe ich diese Freiheit leider nicht. Es darf mir nicht egal sein. Wir brauchen bald eine 10-Sekunden-Tagesschau.
Schon vergessen? Journalisten haben das Zepter abgeben müssen. Das Publikum entscheidet selbst. Und zwar jeder einzelne für sich. Es kommt kein Leser mehr angekrochen und fleht: “Bitte, bitte, lass mich an deinem unermesslichen Reichtum an Nachrichten und Informationen teilhaben.” Das Gegenteil ist der Fall: Ich als Journalist muss höflichst um Audienz bitten: “Bitte, bitte, lieber Leser, lieber Zuschauer! Gewähre mir nur für einen Moment deine Gunst und wende deine Aufmerksamkeit meiner Geschichte zu. Ich habe mir sogar die Mühe gemacht, meine Infos so aufzubereiten, wie du sie gerne hast.” Und vielleicht, wenn man zufällig einen netten, jungen Menschen getroffen hat, kommt der danach sogar mit und guckt sich die runtergekommene Butze namens Zeitung oder Webseite an, in der man sonst so abhängt. Und mit noch mehr Glück findet er das alles irgendwie retro und vintage und bleibt ein bisschen länger da.
Wer junge Menschen mit Nachrichten und Informationen erreichen will, diese ihre Zeit aber lieber auf Snapchat verbringen, sollte also die Güte haben, ihnen diese Infos auch auf Snapchat anzubieten. Und wenn die Medien das nicht können, nun, dann muss Snapchat das eben selber machen. In den USA hat Snapchat ein Team von sechs Journalisten zusammengestellt, die ab jetzt in einem eigenen Programm über den US-Wahlkampf berichten werden. Es hat bereits begonnen. Journalismus findet auf Snapchat statt. Die Qualität mag noch dürftig sein, der Start holprig. Aber so fängt es immer an. Von hier an ist es nicht mehr weit, bis der erste Pulitzer-Preis an eine Reportage vergeben wird, die zuerst auf Snapchat erschien.
Das alles ist sicher nicht die Rettung des Journalismus. Genausowenig wie Path, Pinterest, Ello, Vine, Google Plus, Periscope, Meerkat oder Tinder je die Rettung des Journalismus waren. Die Rettung des Journalismus sind Journalisten. Und zwar die, die verstehen, dass sie dahin gehen müssen, wo das Publikum ist. Und nicht mehr darauf warten, dass das Publikum zu ihnen zurück kommt.
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