Besser kann eine Serie nicht starten: Die ersten drei Minuten von “Picard” sind vielleicht das beste, was Star Trek seit zwei Jahrzehnten hervorgebracht hat.

Es ist genau die Szene, die sich alle Star-Trek-Fans erhofft hatten. Die neue Serie um einen 80-jährigen Jean-Luc Picard beginnt tatsächlich mit der Wiedervereinigung der beiden Star Trek-Legenden Patrick Stewart und Brent Spiner. Wir befinden uns an Bord der Enterprise in Zehn Vorne und sehen Captain Picard und Lt. Commander Data gemeinsam am Pokertisch; ein Bild, das den Bogen schlägt zu den guten, alten Zeiten der “Next Generation”. Mit einer Pokerpartie der gesamten Führungsmannschaft endete einst die Serie, mit der wir Jean-Luc Picard und seine Crew sieben Staffeln lang begleitet haben. Nie waren sich der Captain der Enterprise und seine Offiziere näher, mehr mit sich im Reinen, als in diesem Moment. “Ich wünschte, das Spiel würde niemals aufhören”, sagt Picard 20 Jahre später, sich verzweifelt an die Erinnerung an seinen alten Freund klammernd, den er, genau wie wir Zuschauer, nie wieder leibhaftig sehen wird. Wie wir allen wissen, opferte sich der Android für seinen Captain während der Mission, die sich im Kinofilm “Nemesis” abspielte. 

Ein neues Kapitel für Picard

Geblieben ist die Erinnerung an die unwirklich strahlenden Augen der fortschrittlichsten Maschine, die je von Menschenhand gebaut wurde. Data war ein Geniestreich, den es nie gelang zu wiederholen. Möglicherweise bis jetzt, doch davon ahnt der schlummernde Picard noch nichts. Stattdessen entpuppen sich die nostalgischen Erinnerungen an alte Zeiten als quälender Albtraum. Das friedvolle Kartenspiel wird abrupt von einer schrecklichen Katastrophe auf dem Mars unterbrochen. Und irgendwie hängt auch das mit Picard zusammen. Und mit Data. Gemeinsam mit Picard erwachen wir unsanft in der traurigen Realität: Data ist nicht mehr. Die Enterprise ist nicht mehr, und Jean-Luc ist nicht ihr Captain. Die ersehnte Rückkehr auf das uns vertraute Raumschiff, sie bleibt sowohl für Picard als auch für uns ein Traum. Jetzt beginnt ein neues Kapitel im Leben des alten Mannes. Es ist ein brillanter Einstieg in die Serie, der meisterhaft den Boden bereitet für eine insgesamt sehr starke Folge. Allein in dieser kurzen Sequenz werden Fäden aus drei Jahrzehnten Trek-Geschichte aufgenommen, um sie scheinbar mühelos zu einem neuen, kunstvollen Gebilde zu verknüpfen. 

Doch schon bald nimmt ein neues und unerwartetes Abenteuer seinen Lauf. Eines, das Picard die Chance geben könnte, die beiden großen Wunden in seinem Herzen endlich heilen zu lassen. Nachdem uns die anfängliche Traumsequenz klar gemacht hat, wie sehr der Verlust Datas Picard quält, wird er kurz darauf mit einem weiteren Trauma aus seiner Vergangenheit konfrontiert, einem, von dem wir Zuschauer noch nichts ahnen. Eine  Art TV-Interview übernimmt die Funktion, dem Publikum zu erklären, wie es Picard nach “Nemesis” ergangen ist. 

Als Admiral war er für eine Rettungsmission verantwortlich. Vor zehn Jahren mussten 900 Millionen Romulaner vor ihrer explodierenden Sonne gerettet werden, als diese zur Supernova wurde. Das heroische Unterfangen brachte selbst die Sternenflotte an die Grenze ihrer Belastbarkeit und wurde zudem begleitet von jener Katastrophe auf dem Mars, die uns in Picards Traum bereits angedeutet wurde. In einem terminator-artigen Judgement-Day-Szenario töteten außer Kontrolle geratene Androiden zehntausende Bürger der Föderation. Und plötzlich musste sich der ehrwürdige Admiral Picard unangenehmen Fragen stellen: Hätte die Mars-Katastraophe verhindert werden können, wenn nicht die ganze Flotte mit Romulaner-Transporten beschäftigt gewesen wäre? Die Rettungsmission für den einstigen Erzfeind der Föderation wurde jedenfalls abgebrochen. Als eine humanitäre Krise folgte, schmiss Picard die Brocken hin: Not my Starfleet anymore, schleudert er die aggressiven Interviewerin ins Gesicht. 

#NotmyStarfleet

Es ist der Moment, in dem die Serie “Picard” in jeder Hinsicht im Jetzt ankommt. Die Bezüge zu den zahllosen, sich überall auf der Welt abspielenden Flüchtlingsdramen werden hier überdeutlich. Wie immer in seiner Karriere stellt sich Picard bedingungslos auf die Seite der Moral, vergleicht die Rettung der Romulaner mit den Ereignissen von Dunkirk im Zweiten Weltkrieg des 20. Jahrhunderts. Doch genau wie die Institutionen in unserer heutigen Welt scheitert die Föderation an ihren eigenen Grundsätzen. Plötzlich wird unterschieden zwischen mutmaßlich weniger wertvollem “romulanischem Leben” und Bürgern der Föderation. 

Für Jean-Luc Picard hat die Mars-Katastrophe eine zweite Dimension. Die Föderation verbot als Konsequenz aus dem Roboter-Fiasko die Entwicklung weiterer künstlicher Lebensformen. In den Augen Picards war dies ein Affront gegen das Lebenswerk seines alten Freundes. Data wurde einst das Recht zugestanden, selbst über sein Leben entscheiden zu dürfen. Es sind Ereignisse aus der hochklassigen Next Generation-Folge “The Measure of a Man” (dt. “Wem gehört Data?”), auf die hier Bezug genommen wird. Durch das Verbot künstlicher Lebensformen wurde dem Androiden genau dieses Recht nachträglich aberkannt, für das Picard einst selbst vor Gericht gefochten hat. 

Die Fehler der Vergangenheit

Der Rückgriff auf die berühmte Next Generation-Folge aus der zweiten Staffel der Serie zieht sich wie ein roter Faden durch die erste Folge Picard. Ganz zu Anfang, in der bereits erwähnten Traumsequenz, diskutieren Data und Picard über die Fähigkeiten des Androiden, beim Kartenspiel zu bluffen. Eine ähnliche Diskussion eröffnet auch “The Measure of a Man”. Später stößt Picard bei seinen Nachforschungen auf den Namen Bruce Maddox. Das große Lebensziel eben jenes Maddox war es, einen neuen Data zu erschaffen. “Picard” nimmt diesen losen Faden wieder auf und stellt die Frage, was wäre, wenn…

An dieser Stelle nimmt “Picard” endgültig Fahrt auf. Verfolgungsjagden, Phaserfeuer, Explosionen. Und mittendrin der 80-jährige Picard, der mehr als einmal nach Luft japsen muss, verzweifelt bemüht, mit der rasanten Handlung Schritt zu halten. Wenn man etwas kritisieren möchte an dieser Auftaktfolge, dann die etwas zu bemüht wirkenden Actionsequenzen, die offenkundig von den Bourne-Filmen und dessen Epigonen inspiriert sind (Steven Soderberghs Eine-gegen-Alle-Kracher “Haywire” mit Gina Carano in der Hauptrolle dürfte ebenfalls als Vorbild gedient haben). Die Kampfszenen sind ohne Frage gut choreografiert, fügen sich aber nicht ganz so rund in die emotionale Reise des alternden Jean-Luc Picard ein. Viel interessanter an der tragischen Geschichte der mutmaßlichen Androidin Dahjs sind da die Einblicke in den zivilen Alltag in der Föderation. Diese Perspektive kommt in den meisten Star Trek-Serien viel zu kurz, hier kriegen wir einen Einblick in das Leben außerhalb der Sternenflotte.

Widerstand ist zwecklos!

Der finale Twist von “Remembrance” verfehlt seine Wirkung allerdings nicht und schließt den Kreis zur Anfangsszene mit Data. Mit zwei Traumata aus dem Leben des Jean-Luc Picard sind wir bereits konfrontiert worden. Doch es gibt noch ein weiteres, monströses Erlebnis aus dessen Vergangenheit, das in den letzten Sekunden vergegenwärtigt wird. Der Boden ist also bereitet. Auch der Charakter “Jean-Luc Picard” ist letztlich eine künstliche, von Menschen erdachte Lebensform. Und ganz offenbar haben sich die Autoren und Darsteller Patrick Stewart vorgenommen, diesen Charakter noch einmal auseinanderzunehmen und völlig neu zusammenzusetzen.