Man glaubt, jemanden zu kennen, wenn man 15 Jahre seines Lebens mit einer Person verbracht hat. Doch was sind 15 Jahre im langen Leben eines Menschen? Anzunehmen, man wüsste alles über den Charakter einer Person, nur weil man einen kurzen Abschnitt Seit’ an Seit’ geschritten ist, das wäre wohl “eine grenzenlose Anmaßung”, oder, wie es Admiral Kirsten Clancy gegenüber Jean-Luc Picard im englischen Original wesentlich blumiger zum Ausdruck bringt: “Sheer, fucking hybris.” Wir wissen gar nichts über Jean-Luc Picard, und das wird uns in dieser Folge ein ums andere Mal deutlich klar gemacht.

Die zweite Folge “Star Trek: Picard”, mit dem Titel “Maps and Legends” (dt.: “Karten und Legenden”) gibt sich jedenfalls alle Mühe, Picard weiter als gefallene Lichtgestalt zu inszenieren. Nicht nur, dass er sich für sein verkorkstes TV-Interview von einem Admiral zur Schnecke machen lassen muss wie ein Sternenflottenkadett nach einer verpatzten Prüfung. Bei seinem ersten Besuch im Hauptquartier der Sternenflotte seit Jahren muss er dem ahnungslosen Fähnrich am Empfang auch noch seinen Namen buchstabieren wie einem Sachbearbeiter beim Einwohnermeldeamt. Die Erinnerungen an die Erfolge des einst gewieften Diplomaten und ehrwürdigen Staatsmannes sind verblasst, so, wie das flackernde, holographische Modell der Enterprise, das wie ein Relikt aus besseren Tagen im Foyer des Hauptquartiers der Sternenflotte schwebt

Firefly statt Enterprise

Auch Picard hat mit seiner Ära als Captain des Flaggschiffs der Föderation gebrochen. Schließlich gab es auch ein Leben vor und nach der Enterprise. Das wird uns gleich mehrmals deutlich vor Augen geführt, als potenzielle Chancen auf ein Wiedersehen mit alten Bekannten ungenutzt bleiben. Picards Hausarzt ist nicht seine langjährige Vertraute von der Enterprise, Dr. Beverly Crusher. Es ist ein Mediziner namens Moritz Benayoun, Schiffsarzt der USS Stargazer, Picards erstem Kommando. Und als es darum geht, eine Crew für seine neue Mission zusammenzustellen, wendet sich Picard explizit nicht an Riker, Worf oder LaForge, die aufzusuchen ihm sein romulanischer Major Domus Zhaban vorschlägt. Stattdessen sucht er die Hilfe einer Frau namens Raffi. Die lebt zurückgezogen in einem Wohnwagen in der Wüste und empfängt Picard stilecht mit der Flinte in der Hand, als hätte sie sich aus Joss Whedons Western-SciFi-Serie “Firefly” zu Star Trek verlaufen. Sie scheint eine Weggefährtin aus Picards Zeit nach der Enterprise zu sein. Der Captain trommelt seine alte Gang für ein letztes Abenteuer zusammen. Es ist nur eine andere als die, die wir kennen und erwartet haben.

Geheim, geheimer, Romulaner

Und wie es sich für modernes Post-Next-Generation-Ära-Fernsehen gehört, haben wir es nicht nur mit aufrechten Helden zu tun. Wir begegnen auch den Schurken unserer Geschichte. Und auch die, da ist Star Trek inzwischen ganz modern, bekommen eine eigene Geschichte und eine eigene Persönlichkeit auf den Leib geschrieben. Doch damit tun sich die Autoren erkennbar schwerer als mit der bislang sehr gelungenen Neuerfindung des Charakters Picard. Die Geschichte um einen romulanischen Illuminaten-Geheimbund, der so geheim ist, dass selbst die geheimnisvollsten Geheimagenten der auf Verschwörungstheorien und Intrigen spezialisierten Alienrasse nichts von ihm wissen, muss mir noch beweisen, dass sie wirklich originell ist. Die bis jetzt ziemlich eindimesionale Motivation der spitzohrigen Finsterlinge: Sie hassen künstliche Lebensformen. Warum? Einfach so.

Noch wissen wir zu wenig über die sinistren Superagenten. Aber ihr erster Auftritt verbreitet ungefähr so viel Panik wie eine Schurkenorganisation aus einem Bond-Film der 1970er-Jahre. Da liegt noch viel Arbeit vor Harry Treadaway und Peyton List. Sie verkörpern das hinterlistige Geschwisterpaar Narek und Rizzo. Ihr Auftritt ist hart an der Grenze zur Parodie und nur ganz knapp nicht unfreiwillig komisch. Dabei sollen sie als Gegenspieler Picards aufgebaut werden. Immerhin, auch das typisch Bond-Bösewicht, verfügen sie über ein ausgesprochen ungewöhnliches und extravagantes Hauptquartier.

Der im All gestrandete Borg-Kubus, den die Romulaner auszuschlachten versuchen, bildete den Cliffhanger von der ersten zur zweiten Folge. Nun verbringen wir erstmals mehr Zeit auf dem Wrack. Und wie fast immer, wenn die Borg bei Star Trek auftauchen, breitet sich sofort eine unwirkliche, bedrohliche Atmosphäre aus. Zwar ist der Würfel seit 16 Jahren inaktiv und vom Kollektiv getrennt. Doch die Beschwichtigungsversuche Nareks, dass hier “eigentlich” keine Gefahr mehr droht, scheinen in den endlosen Korridoren des Kubus zu verhallen. Die Borg funktionieren als große Nemesis der Föderation noch genauso gut wie seit ihrem ersten Auftreten. Hier schlummert eine Bedrohung, die nur darauf wartet, geweckt zu werden.

Asimov und Joker

Wie das ausgehen wird, darauf weist auch der exzellente Prolog der Folge hin. Die kurze Sequenz erzählt, wie der Aufstand der Maschinen auf dem Mars vor 14 Jahren begann. Hier zeigt die junge Regisseurin Hannelle Culpepper ihr ganzes Talent und Können. Mit ganz einfachen Mitteln erzählt sie eine sehr effektive und wirkungsvolle Kurzgeschichte im Stile Isaac Asimovs (dem später in der Folge ausdrücklich Referenz erwiesen wird, als Dr. Agnes Jurati in einem seiner Werke blättert). Der Vorspann zur zweiten Folge spielt auf der Utopia Planitia Schiffswerft und taucht ab ins Arbeitermilieu der Föderation, eine Welt die wir viel zu selten kriegen. Hier hält nicht die Elite der Sternenflotte den Laden am Laufen. Mit wenigen Dialogzeilen und kurzen, aber effektiv eingesetzten Standards wie dem derben Gespräch in der Umkleidekabine, versetzt uns Culpepper sofort in die raue Welt der Schiffswerft auf dem Mars.

Dort arbeiten Menschen Seite an Seite mit menschenähnlichen Robotern, die allerdings eine sehr unwirkliche Aura verbreiten, ganz anders als der uns vertraute Android Data. Die menschlichen Kollegen wissen auf ihre künstlichen Kollegen nur mit Scherzen auf Kosten der Roboter zu reagieren. Doch nicht mal diese Provokationen lösen eine Gefühlsregung aus. Stattdessen zeigt der Android F-8 als Reaktion ein künstliches, offenkundig deplatziertes Grinsen; und erinnert damit frappierend an den ebenfalls sozial inkompetenten Charakter des Arthur Fleck aus dem Filmhit des vergangenen Jahres, “Joker”. So ist es nur folgerichtig, dass die zunächst nur unbehagliche Atmosphäre kurz darauf ins nackte Grauen umschlägt. F-8 gehen plötzlich alle Sicherungen durch und er löst den blutigen Amoklauf auf dem Mars aus, unter dessen Folgen die Föderation bis heute leidet.

Der Prolog ist auch deshalb so effektiv, weil sich Motive aus den ersten Szene später wiederholen. Genau wie auf dem Mars stecken die Arbeiter in roten Overalls, während sie ihr Tagwerk auf dem Borgkubus verrichten. Auch die Romulaner machen bemühte Scherze über die inaktiven Borgdrohnen, nennen sie “Namenlose”, um die Bedrohung kleiner zu machen als sie ist. So wird schnell deutlich, dass hier Individuen leichtfertig mit einer Technologie herumspielen, die sie nicht völlig verstehen. Der Horror auf dem Mars ist vorbei. Doch das Schlimmste auf dem Borgkubus steht uns womöglich noch bevor.

Der TNG-Tipp der Woche

S01E13 “Das Duplikat” (engl.: “Datalore”)

Genau wie Dahj hatte auch Data hatte einen Zwilling. Sein Bruder Lore erwies sich allerdings als gefährlicher Vorläufer der Amok laufenden Mars-Androiden. Außerdem gibt es auch in dieser Folge, genau wie in der zweiten Episode von “Picard”, einen kleinen Schlenker Richtung Isaac Asimov. Der Urvater der Roboter-Science-Fiction ist eine wesentliche Quelle für alles, was mit Data, Androiden und künstlichen Wesen bei Star Trek zu tun hat.