Remote Work verträgt sich nicht mit einer guten Unternehmenskultur, sagen Chefs wie Kaspar Rorsted und Jürgen Klopp. Das liegt aber nicht an Remote Work. Sondern an einer veralteten Vorstellung von Unternehmenskultur.
Der wichtigste Ort in deutschen Unternehmen ist nicht die Chefetage. Es sind auch nicht die Meetingräume oder die Keller, in denen die Server stehen. Seit diesem Jahr wissen wir: Die Herzkammer der deutschen Wirtschaft ist die Kaffeeküche. Das ist ein außerordentlicher Aufstieg für einen Raum, in dem sich üblicherweise Tassen mit angetrockneten Kaffeeresten vor einer seit vier Tagen nicht ausgeräumten Spülmaschine stapeln, wo am Kühlschrank zwei Jahre lang ein vergilbter und verknitterter Zettel klebt mit der Aufschrift „Bitte alle privaten Essensvorräte bis Freitag ausräumen. Dann wird ALLES weggeschmissen!!1elf!“.

Seit Corona ist das anders. So viele Menschen wie nie haben in diesem Jahr von zu Hause gearbeitet. Büros waren über Wochen verwaist, Kaffeeküchen auf einmal keimfrei. Und siehe da: Plötzlich werden die nach kaltem Fastfood-Mittagessen müffelnden Schimmelbrutstätten zu heiligen Hallen eines jeden Unternehmens verklärt. Stellvertretend für zahlreiche Führungskräfte zitiere ich Peter Frey aus der Dezember-Ausgabe des Fachmagazins „Journalist:in“. Der Chefredakteur des ZDF sagt zum Thema Homeoffice:

„Langfristig glaube ich nicht, dass Homeoffice die Standard-Arbeitsform im ZDF sein wird. Redaktion heißt eben: Menschen sitzen an einem Tisch, diskutieren, treffen sich in der Teeküche und erfinden ein Thema. Die Zukunft, denke ich, werden Mischformen sein.“

(Immerhin spricht er von Mischformen, das ist ja schon mal was.)

Die Verklärung der Kaffeeküche

Im August veröffentlichte Blogger und Agenturchef Thomas Knüwer einen viel diskutierten Blogpost über den „größten Management-Fehler 2020“. Gemeint war Homeoffice. Auch Knüwer sprach davon, dass „Kantine und Kaffeeautomat als Orte wegfallen, an denen eine Mitarbeiterin ihr Netzwerk durch Kontakte in andere Teams oder Abteilungen erweitern kann.“ Nun ist Knüwer kein ewiggestriger Digitalverweigerer, ganz im Gegenteil. Er ist auch kein Gegner von Homeoffice und flexiblem Arbeiten. Nach eigener Aussage ermöglicht er das den Beschäftigten seiner Agentur selbst. Er glaubt nur nicht daran, dass größere Organisationen langfristig von Homeoffice profitieren werden. Die Unternehmenskultur würde erodieren, schreibt er.

Ähnlich argumentieren zwei Alpha-Tiere der deutschen Managementwelt. Ein Interview der Welt am Sonntag mit Kaspar Rorsted und Jürgen Klopp machte im Dezember 2020 die Runde. Rorsted ist CEO von Adidas. Jürgen Klopp ist einer der erfolgreichsten Fußballtrainer der Gegenwart und eine der beliebtesten Führungspersonen (und Werbefiguren) in Deutschland. Die Top-Bosse argumentieren ähnlich wie Thomas Knüwer. Die WamS zitiert Rorsted mit den Worten:

„Ich halte nichts vom ständigen Arbeiten zu Hause. Für mich ist das Arbeiten eine soziale Sache, bei uns ist sie Teamsport.“

Wenn alle immer zu Hause arbeiten, entstehe keine Gemeinschaft, sagt Rorsted. Der Arbeitgeber werde austauschbar wie ein Bildschirmschoner, ergänzt Klopp, auf dessen Rechner offenbar immer noch die Uhrzeit in 3-D-Schrift über den Screen bounct, Windows XP-Style.

Die Boomer-Logik der beiden Sportchefs: Gemeinsames Arbeiten vor Ort ist sozial. Gemeinsames Arbeiten über digitale Kanäle nicht. Das zufällige Gespräch auf dem Flur, am Kopierer oder eben in der Kaffeeküche zu verklären, und das angebliche Fehlen dieses Miteinanders als Argument gegen Remote Work zu benutzen, wird allerdings zum Bumerang. Es zeigt nämlich, was tatsächlich falsch läuft in der ganzen Diskussion um Remote Work.

Remote ist die Unternehmenskultur

Ich glaube, die mangelnde Akzeptanz von Remote Work in Deutschland ist ein Führungskräfteproblem. Frey, Knüwer, Rorsted und Klopp behaupten, Remote und gute Unternehmenskultur schließen sich aus. Der Denkfehler: in einer funktionierenden Organisation ist Remote die Unternehmenskultur. Jason Fried, Gründer der Projektmanagementplattform Basecamp, beschreibt in einem Blogpost, warum Unternehmen an Remote Work scheitern werden, wenn sie versuchen, ihre Arbeit auf Distanz genauso zu erledigen wie sie es vor Ort getan haben.

“Right now, we’re seeing a lot of companies attempt to port local work methods to working remotely. Normally have four meetings a day in person? Then let’s have those same four meetings, with those same participants, over Zoom instead. It’s a way, but it’s the wrong way.”

Wer die Vorteile von Remote Work voll ausnutzen will, muss Werte wie persönliche Freiheit, Transparenz, gegenseitiges Vertrauen von Beschäftigten und Führung ineinander zum Teil der Unternehmens-DNA machen. Umgekehrt werden Unternehmen, die diese Werte wirklich leben (und nicht nur davon reden), keine großen Schwierigkeiten damit haben, auf Remote Work umzustellen. Das muss aber von oben kommen.

Es spielt dabei keine Rolle, ob alle, viele oder nur ein paar Mitarbeiter:innen remote sind. Wenn einer remote ist, sind alle remote, ist einer der Kernsätze der Remote-Kultur. Und die Werte, die mit Remote Work einhergehen, werden von allen gelebt, ob sie nun jeden Tag ins Büro kommen, nur an ein paar Tagen die Woche oder nie. Und wenn das passiert, dann wird auch die Unternehmensgröße nicht mehr zum Blocker.

Remote Work ist ein Mindset

Das Köln-Berliner Softwareunternehmen Eyeo hat rund 200 Mitarbeiter und eine tief in der Open-Source-Community verwurzelte Remote-Kultur. Der Software-Gigant Salesforce hat fast 50.000 Mitarbeiter und glaubt fest an Remote Work. Übrigens nicht erst seit Corona. Was diese Unternehmen verstanden haben: Remote Work ist nicht entweder oder. Es ist ein Mindset, bei dem es grundsätzlich darum geht, Arbeitsabläufe, Kommunikation und Zusammenarbeit unabhängig von Ort und Zeit zu gestalten.

Im Interview mit Teresa Hertwig auf getremote.de sagt Eyeos Managing Director Jutta Horstmann:

„Die Konzentration auf Präsenz vor Ort und das “Absitzen” eines festgelegten Stundenkontingents sind Glaubenssätze in der deutschen Arbeitskultur von denen wir uns lösen sollten.“

Smalltalk ist kein Zufallsprodukt

Nur, weil diese Unternehmen Remote arbeiten, schaffen sie Büros und Firmengebäude nicht ab. Im Gegenteil: Die persönlichen Begegnungen werden wertvoller und erst recht zelebriert. Die erfolgreichen Remote-Unternehmen machen uns bewusst, dass die Arbeitgeber, bei denen die Beschäftigten nur in der Kaffeeküche oder am Kickertisch “socialisen” können, ein anderes Problem haben. Sie haben zwar verstanden, dass sozialer Kitt wichtig für eine gut laufende Organisation ist. Aber sie erkaufen sich diesen Kitt in erster Linie durch austauschbare Annehmlichkeiten, anstatt Miteinander und Teamspirit auf eine kulturelle Grundlage zu stellen.

Im Oktober 2019 hatte ich Darren Murph per Mail für Digitale Leute interviewt. Murph ist Head of Remote bei Gitlab, mit 1.300 Beschäftigten eines der größten All-Remote-Unternehmen der Welt. Das frei verfügbare Gitlab-Handbuch gilt inzwischen als das Standardwerk für Remote Work Unternehmen. In unserem Interview schrieb Murph:

„In an all-remote setting, leadership must be intentional about informal communication.“

In einem Kaffeeküchen-Unternehmen hält man informelle Gespräche und Smalltalk für Zufall. Obwohl anscheinend geglaubt wird, dass dort viele gute Ideen und Innovation entstehen, gibt es im Management keine Vorstellung davon, wie man diese scheinbar zufälligen Konversationen institutionalisiert und zu einem Wert an sich macht. Stattdessen wird mit bürokratischer Akribie die Anwesenheit im Unternehmen in Arbeitszeiten und Pausenzeiten unterteilt und so zu einem weiteren Kontrollinstrument für die Belegschaft. Das schlechte Gewissen, es sitzt beim ach so tollen “Schwatz am Kopierer” immer mit im Raum. Man hält es für Unternehmenskultur. In Wahrheit sehen die meisten Chefs Zeit, die nicht am Schreibtisch verbracht wird als unproduktives Gedöns, dessen Kontingent minutiös im Arbeitsvertrag vorgeschrieben wird.

Es braucht einen Remote-Vorstand

In einem guten Remote-Unternehmen gibt es Mittel und Wege, Kommunikation, Miteinander und Gespräche auf Distanz bewusst zu initiieren. Ein gutes Beispiel dafür ist ein unternehmensweiter “Remote Open Space”, den eyeo in diesem Jahr über mehrere Zeitzonen hinweg organisiert hat.
In einem Unternehmen wie eyeo gibt es einen Plan dafür, wie man die Beschäftigten zusammenbringt und gemeinsam wertvolle Zeit verbringt, ohne, dass alle vor Ort sein müssen. Im Management gibt es eine klare Vorstellung und Zielsetzung dafür gibt, wie Remote Work aussehen kann und gelebt werden soll. Alle verstehen, warum es für das Unternehmen wichtig ist, diese Arbeitsform neben anderen anzubieten.

Einer der ersten Schritte für Unternehmen, die langfristig Remote Work unterstützen wollen, ist darum, eine Führungskraft dafür einzustellen, einen Vorstand für Remote Work oder Chief Remote Officer. Darren Murph achtet als Head of Remote bei GitLab darauf, dass alle Prozesse, Tools und Kommunikation im Unternehmen zu jeder Zeit das Ziel unterstützen, hundert Prozent remote zu sein. Viele große Tech-Firmen folgen diesem Beispiel, schreibt Murph in einem lesenswerten LinkedIn-Beitrag:

„GitLab, GitHub, Facebook, Quora, and Twitter (and others!) are all hiring for, or already employ, a person or team whose full-time job is to ensure that remote work works.“

Die wichtigste Aufgabe eines solchen Remote-Vorstands lässt sich in einem Satz zusammenfassen. Diese Person trägt die Verantwortung dafür, dass Remote Work zu einer Säule der Unternehmenskultur wird und alle Beschäftigten Remote-First handeln, arbeiten und kommunizieren.

Tischtennisplatten reichen nicht

Diese Person muss selbst Erfahrung mit Remote Work haben und die ganze Palette der Probleme und Missverständnisse kennen, die um Remote Work kursieren. Wie die Arbeitsplätze für Beschäftigte zu Hause eingerichtet sein müssen, welche Hard- und Software zur Verfügung gestellt wird, kann eine in Remote Work erfahrene Führungskraft viel besser beantworten als der Chef, für den Homeoffice bedeutet, aus einem geräumigen 25-Quadratmeter-Arbeitszimmer in der Stadtrand-Villa zu arbeiten.

Die Corona-Krise hat offengelegt, dass es eben nicht reicht, Tischtennisplatten und teure Espressomaschinen ins Büro zu stellen und dann von den Beschäftigten zu erwarten, dass sie jetzt gefälligst Teil der Firmenkultur zu sein haben. Informelle Gespräche, soziale Kontakte und Teamspirit zu fördern, sollte in jedem Unternehmen eine im Management verankerte Aufgabe sein, nichts, was man sich selbst überlässt. Wer auf eine Kaffeeküche angewiesen ist, damit die Beschäftigten motiviert sind und sich als Teil von was Größerem fühlen, hat die Prinzipien von Remote Work entweder nicht verstanden oder keinen Bock drauf. Und dann ist es tatsächlich besser, man lässt einfach die Finger davon.

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