In der fünften Folge wirft Star Trek: Picard endlich alle Fesseln ab. “Stardust City Rag” (dt.: Keine Gnade) ist eine epochale Folge, in der Regisseur und Trek-Veteran Jonathan Frakes das Franchise neu erfindet. Ein Star Trek ohne Sternenflotte? Das geht. Und es macht Riesenspaß.

Würde man eine Liste mit den zehn grausigsten Toden in Star Trek aufstellen, diese Folge hätte gute Chancen aus dem Stand auf die vordersten Plätze zu springen. Dreimal wird in dieser Folge gestorben, und jeder einzelne der Leinwandtode ist ein aufwühlendes, traumatisierendes Schreckensereignis. Auf der anderen Seite ist es die Folge, in der Jean-Luc Picard versucht, mit einer Augenklappe und einem aufgesetzten französischen Akzent eine Bordellbesitzerin und Hehlerin auf einem zwielichtigen Vergnügungsplaneten aufs Kreuz zu legen.

“Rag” ist das englische Wort für Fetzen oder Lumpen, kann aber auch Unfug bedeuten. Und auch davon bietet diese Folge beileibe nicht zu wenig. Dass diese gegensätzliche Mixtur aufgeht, ist vor allem dem Mann auf dem Regiestuhl zu verdanken.

Frakes’ wilder Genremix

Jonathan Frakes liefert in seiner 21. Regiearbeit für Star Trek ein ultrabrutales, karnevaleskes Cyberpunk-Märchen ab. Mit erkennbarer Freude plündert er dafür den Fundus des Exploitation- und Genre-Kinos, bedient sich bei James Bond, Ocean’s 11, Blade Runner, John Carpenter, David Cronenberg, und, und, und. Es ist eine lustvolle, alle Genregrenzen sprengende Orgie, in der Dinge passieren und gezeigt werden, die in Star Trek so gut wie undenkbar waren. Organisiertes Verbrechen, Selbstjustiz, Glücksspiel, Werbung und Drogensucht sind Themen, denen sich Star Trek bis dato eher mit dem erhobenen Zeigefinger genähert hat. Diese Folge ist der ausgestreckte Mittelfinger an alle Trek-Nostalgiker, die diesem Moral-Fernsehen der 1980er Jahre nachtrauern.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht diesmal nicht Jean-Luc Picard. Patrick Stewart bekommt eine ebenso verdiente wie nötige Atempause von seinen bisher sehr schwermütigen Auftritten und darf hemmungslos über die Stränge schlagen. Die emotionale Schwerstarbeit übernehmen stattdessen die Frauen an Bord unseres neuen Raumschiffs. Jeri Ryan als Seven of Nine, Michelle Hurd als Raffi Musiker und Alison Pill als Agnes Jurati erden den campigen Unfug und machen ihn zu einer Charakterstudie über drei Frauen, die ein ähnliches Schicksal vereint: Sie alle haben den Menschen verloren, der ihnen am meisten bedeutet hat.

3 Frauen, 1 Schicksal

Agnes Jurati, der liebenswerte Charakter der Darstellerin Alison Pill, trauert ihrem Geliebten Bruce Maddox nach. Dass die Wissenschaftlerin mit dem entführten Experten für künstliche Lebensformen liiert war, ist allerdings nicht die größte Überraschung um Juratis Entwicklung. Die bislang etwas unbeholfen wirkende Forscherin sorgt am Ende für den vielleicht größten WTF-Moment der Folge. Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten.

Raffi Musiker hingegen ist nach Freecloud gekommen, um eine Wunde der Vergangenheit zu heilen. Sie möchte das Verhältnis zu ihrem Sohn kitten. Der hat mit seiner Mutter vor Jahren gebrochen, nachdem Raffi in Folge von Picards gescheiterter Mission aus der Sternenflotte ausscheiden musste. Das unerwartete Ende ihrer Karriere ließ Raffi in ein tiefes Loch aus Depression und Drogen stürzen. Wir Zuschauer lernen durch das Schicksal der Ex-Offizierin eine wichtige Lektion: Die utopische, sorgenfreie Welt der Sternenflotte war ein Scheingebilde.

Das post-kapitalistische Versprechen von Sicherheit und Wohlstand für alle gilt nicht mehr. Vielleicht ist es schon immer eine Lüge gewesen. Solange Raffi die Uniform tragen durfte, war sie selbst ein Teil dieser Scheinwelt gewesen. Doch mit der Attacke auf den Mars und die romulanische Flüchtlingskatastrophe brach diese Welt zusammen. Und Raffi war einer der ersten Kollateralschäden, für den sich niemand mehr verantwortlich fühlte.

Jeri Ryans Comeback als Seven of Nine

Den furiosesten Auftritt von allen liefert aber Jeri Ryan bei ihrem Comeback als Seven of Nine ab. Die einst von der Voyager aus dem Delta-Quadranten gerettete Ex-Borgdrohne hält sich inzwischen als eine Art Kopfgeldjägerin und freischaffende Gesetzeshüterin über Wasser. Was Picard und seine Crew nicht ahnen, als sie die Hilfe der Rangerin annehmen: Seven hat noch eine Rechnung mit jemandem auf Freecloud offen.

Jeri Ryan kehrt mit einer derartigen Wucht und Physis ins Star Trek-Universum zurück, dass man nur hoffen kann, dass dies nicht ihr letzter Auftritt gewesen ist. Vom Start weg spürt man, dass diese Folge ihr gehört. Und die Charaktere um sie herum geben ihr respektvoll den Raum, den sie dafür benötigt und verdient.

Genau wie Raffi hat auch Seven of Nine einen (in diesem Fall nicht leiblichen) Sohn verloren; auf die schrecklichst mögliche Weise. Viel Zeit, Sevens Ziehson Icheb kennenzulernen haben wir nicht. Dafür kann man sich ein paar Folgen Voyager der Staffeln sechs und sieben anschauen. Dort spielt die Figur des Icheb eine wiederkehrende Nebenrolle und baut eine enge Beziehung zu Seven of Nine auf. Darauf verweist nun die dramatische Geschichte, die den emotionalen Kern dieser Folge bildet. Ganz nebenbei tauchen wir dabei in eine ebenso faszinierende wie düstere Unterwelt von Star Trek ein: den Borg-Schwarzmarkt.

Trek goes Cyberpunk

Diese Idee ist so bestechend, dass man sich fragt, warum sie nicht schon viel früher aufgegriffen wurde. Borg-Implantate sind fortschrittliche Technologie, gehören zu einer mächtigen und bedrohlichen Entität und sind schwer zu  beschaffen. Kein Wunder, dass es Leute im All gibt, die bereit sind, viel Geld dafür zu bezahlen, aus welchen Gründen auch immer. In dieser Idee, die direkt aus Ghost in the Shell und ähnlichen Cyberpunk-Erzählungen stammen könnte, steckt so viel Potenzial, dass ich sehr hoffe, dass wir davon noch mehr sehen werden.

In den ersten Folgen der Serie war “Picard” erkennbar bemüht, Verbindungen zur uns wohlbekannten Komfortzone von Sternenflotte, Enterprise und Zehn Vorne herzustellen. Genau wie Jean-Luc Picard sind wir nun gezwungen, diese Komfortzone zu verlassen. Die Regeln der Sternenflotte gelten nicht mehr. Im Universum von Star Trek ist jetzt wirklich alles möglich.

TNG-Tipp der Woche (S01E25): Conspiracy (dt. Titel: Die Verschwörung)

Eine der wildesten Next-Generation-Episoden ist diese Folge aus Staffel 1, in der wurmige Bodysnatcher-Aliens versuchen, die Führung der Sternenflotte zu übernehmen. Wenn es eine Folge gibt, die in Sachen “grauenhafte Tode” mit der aktuellen Folge “Picard” mithalten kann, dann diese.