Schülerinnen und Schülern in Nordrhein-Westfalen sollen keine Nachteile mehr haben, wenn der Präsenzunterricht in Schulen durch Corona unterbrochen wird. Mit zwei umfassenden Broschüren, einmal für allgemeinbildende Schulen, einmal für Berufsschulen, sollen alle Schulen im bevölkerungsreichsten Bundesland auf den Ernstfall einer erneuten dauerhaften Schulschließung vorbereitet werden.

Kurz vor dem Ende der Sommerferien legt das Bundesland NRW damit detailliert dar, wie der Unterricht außerhalb der Schule aussehen soll, wenn die bestehenden Hygienemaßnahmen des Landes nicht ausreichen. Dazu gehören zum Beispiel eine dauerhafte Maskenpflicht auch im Unterricht an weiterführenden Schulen. Das Schulministerium hat am Donnerstag, 6. August 2020, auf seiner Webseite sogenannte Handreichungen veröffentlicht. Für die allgemeinbildenden Schulen liegen die Informationen in Form einer Microsite und als PDF-Dokument vor. Für die Berufskollegs gibt es nur ein PDF.

Dass für die allgemeinen Schulen sogar eine Microsite angelegt wurde, finde ich besonders positiv. Die Seite ist angenehm zu navigieren und für den ein oder anderen sicherlich übersichtlicher und strukturierter als das 46 Seiten umfassende PDF.

Handreichung für allgemeinbildende Schulen (PDF)

Handreichung für allgemeinbildende Schulen (Microsite)

Handreichung für Berufskollegs (PDF)

Schluss mit “Homeschooling”

Die wichtigste Botschaft des Schulministeriums lautet:

“Beim Distanzunterricht handelt es sich nicht um sogenanntes Homeschooling”.

Der Begriff Homeschooling hatte sich während der ersten Schulschließung eingebürgert und ist bei vielen Eltern zum Unwort des Jahres geworden. Er suggerierte, dass die Verantwortung für den Unterricht vom Lehrpersonal mehr oder weniger auf die Erziehungsberechtigten übergegangen war. Die LehrerInnen schicken einmal pro Woche ein paar Arbeitsblätter. Die Eltern kümmern sich um den Rest.

Das klingt polemisch. Vor den Sommerferien war es leider die traurige Realität in vielen Haushalten. Eine veröffentlichte Befragung des Ifo-Instituts ergab, dass 45 Prozent der Kinder während der dreimonatigen Schulschließungen überhaupt keinen individuellen Kontakt mit einer Lehrkraft hatten. Ebenfalls 45 Prozent der Befragten gaben an, dass nie gemeinsamer Unterricht im Klassenverband stattgefunden hätte, zum Beispiel per Videokonferenz. Die SchülerInnen, die hier in der Schnittmenge sind, haben über Monate nicht ein einziges Mal mit einer Lehrkraft gesprochen. Die Folge: Die meisten SchülerInnen verbrachten nur noch halb so viel Zeit mit Schulinhalten wie vor Corona. Das galt besonders für die, die ohnehin schon schwache Leistungen aufwiesen.

Die Befragung des Ifo-Instituts zu Schule während Corona im Volltext (PDF)

Die Pressemitteilung des Ifo-Instituts zu Schule während Corona

Lehrende in der Pflicht

Dieses pädagogische Fiasko soll sich zumindest in NRW nicht wiederholen. Das Schulministerium stellt jetzt eindeutig klar:

“Distanzunterricht ist dem Präsenzunterricht im Hinblick auf die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden der Schülerinnen und Schüler wie der Unterrichtsverpflichtung der Lehrkräfte gleichwertig.”

Bedeutet im Klartext: Die Aufgaben der LehrerInnen können sich nicht mehr auf das wöchentliche Versenden von E-Mails mit Arbeitsaufgaben beschränken. Umgekehrt gilt für SchülerInnen, dass sie am Distanzunterricht teilnehmen müssen, wie auch immer der aussieht. Dafür haben im Zweifel die Eltern zu sorgen.

Das Ganze wird auch auf eine rechtliche Grundlage gestellt. Die Zweite Verordnung zur befristeten Änderung der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen gemäß § 52 SchulG regelt die Details der Ankündigungen.

Wichtige Inhalte dieser Verordnung sind:

  • Die Schulen müssen einen Plan für Distanzunterricht vorlegen.
  • Distanzunterricht kann auch für einzelne Klassen oder sogar einzelne SchülerInnen erteilt werden, wenn diese aus Gründen des Infektionsschutzes nicht am Präsenzunterricht teilnehmen können.
  • Distanzunterricht findet soweit wie möglich digital statt.
  • Die Lehrkräfte kümmern sich darum, dass der Unterricht läuft, geben Feedback und achten auf ein angemessenes Pensum, das nicht das des Präsenzunterrichts überschreitet.

Die Verordnung tritt rückwirkend zum 1. August 2020 in Kraft, wenn der Schulausschuss des Landes NRW in seiner nächsten Sitzung zustimmt. Die findet planmäßig am 19. August 2020 statt. Die Verordnung gilt dann zunächst befristet bis zum 31. Juli 2021.

So soll Unterricht auf Distanz gehen

Diese Vorgaben werden mit den jetzt veröffentlichten Handreichungen weiter mit Leben gefüllt. Ich habe mir die Handreichung genau angeguckt. Die für die SchülerInnen und Eltern wichtigsten Punkte finden sich in der ersten Hälfte, in der die Organisation des Schulalltags unter Corona geregelt wird. In der zweiten Hälfte des Papiers erhalten Lehrende pädagogische Empfehlungen für den digitalen Unterricht. Das Material löst sicher nicht jedes Problem, das im Alltag auftauchen wird. Wie gut der Distanzunterricht ausfallen wird, hängt letztlich vom Engagement und der Kompetenz der einzelnen Lehrenden ab. Daran kann auch das Schulministerium nichts ändern. Aber die Voraussetzungen für einen guten, digitalen Unterricht sind nun erheblich besser als noch vor dem ersten Lock-Down.

Das Schulministerium erklärt ziemlich genau, welche Schritte als nächstes zu gehen sind, um Distanzunterricht auf den Weg zu bringen. SchülerInnen und Eltern sind ein Teil der anstehenden Prozesse. Sie müssen und sollen das Geschehen an ihren Schulen konstruktiv begleiten. Meiner Meinung nach dürfen sie von den Schulen vor allem auch einfordern, dass die geforderten Punkte jetzt zügig umgesetzt werden. Das Schulministerium setzt nämlich keine Fristen, bis wann die Schulen die einzelnen Zwischenziele erreicht haben müssen.

Status Quo an Schulen erfassen

Die erste Aufgabe für alle Schulen im Land ist, den Status Quo zu klären. Dafür stellt das Schulministerium den Schulen sogar einen Musterfragebogen zur Verfügung.

Fragebogen zur Erfassung des Status Quo für möglichen Distanzunterricht

Die Schulen sollen fragen,

  • über welche technische Ausstattung die SchülerInnen verfügen,
  • ob es geeignete Arbeitsplätze zu Hause gibt,
  • ob ein Internetanschluss vorhanden ist.

Außerdem sollen die Schulen dafür sorgen, dass nötige Einverständniserklärungen vorliegen. Die können erforderlich sein, um mit den SchülerInnen Videokonferenzen machen zu können oder um bestimmte Unterrichtsinhalte aufzeichnen zu können.

Aber auch die Schulen müssen den Check bei sich machen.

  • Welche digitalen Geräte sind eigentlich vorhanden (Sicherheitshinweis: Overhead-Projektoren zählen nicht!)?
  • Welche Apps, Plattformen und sonstigen digitalen Lehrmittel können eingesetzt werden und verfügt man über die dafür nötigen Log-Ins?
  • Welche digitalen Kompetenzen gibt es beim Schulpersonal, gegebenenfalls auch bei den Eltern?

Plan für Distanzunterricht entwickeln

Wenn diese Erkenntnisse gesammelt wurden, müssen die Schulen in Schritt Zwei zügig einen Plan für Distanzunterricht entwickeln. Hier sind zuerst die Schulleitungen und das Kollegium gefordert. Eltern und SchülerInnen sollen aber selbstverständlich mit einbezogen werden. Zu diesem Plan gehören Festlegungen,

  • wie die regelmäßige Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden erfolgen soll,
  • wie die Teilnahme am Unterricht festgehalten wird,
  • wie Feedback zum Unterrichtsstoff gegeben wird,
  • wie der Schulstoff priorisiert wird, wenn es zu Engpässen kommt (Eingangs- und Abschlussklassen haben beispielsweise Vorrang, genauso wie Schüler mit besonderen Bedürfnissen).
  • wie der Datenschutz sichergestellt wird. (Auch zu Datenschutz an Schulen während Corona gibt es ein umfassendes Dokument des Landesdatenschutzbeauftragten von NRW.)

Dieser Plan soll allen Beteiligten an der Schule natürlich transparent gemacht werden.

Unterstützung für sozial schwache SchülerInnen

Bildung ist ein Menschenrecht. Dementsprechend müssen Schulen dafür sorgen, dass SchülerInnen unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten oder ihrem sozialen Hintergrund unterrichtet werden. Wenn es SchülerInnen gibt, die aus welchen Gründen auch immer, nicht auf Distanz unterrichtet werden können, muss die Schule dafür entsprechende Räume zur Verfügung stellen. Das Schulministerium spricht hier von “Study Halls”. Das sollen extra eingerichtete Einzelarbeitsplätze sein, an denen die Betroffenen an einem Rechner mit Online-Zugang arbeiten können. Dabei werden sie natürlich entsprechend betreut.

Darüber hinaus stellt das Land 178 Millionen Euro für die digitale Ausstattung von Schulen und SchülerInnen bereit. Die Schulen können aus diesem Topf Mittel beantragen. Alle Infos dazu finden sich auf der Seite Digitalpakt-NRW.de. Das Prozedere dazu auszuführen würde den Rahmen dieses Blogposts sprengen.

Pädagogische Empfehlungen

Darüber hinaus macht das Schulministerium konkrete Empfehlungen, wie der Distanzunterricht pädagogisch besser gestaltet werden kann. So sollen die Lehrkräfte Tandems oder Teams bilden, um sich die anfallende Arbeit teilen zu können. Auch die SchülerInnen können Lern-Teams bilden, um soziale Kontakte aufrecht zu erhalten. Verantwortungsvolle und leistungsstarke SchülerInnen können als Lernpaten eingesetzt werden, um schwächere SchulkameradInnen sozial und beim Unterricht zu unterstützen.

Wichtig finde ich auch einen weiteren Punkt: Lehrkräfte, die zu einer Risikogruppe gehören, und darum nicht in die Schule kommen, sind nicht von ihren Aufgaben befreit. Sie können zum Beispiel ebenfalls gefährdete und daheim gebliebene SchülerInnen betreuen oder das Kollegium mit anderen Arbeiten unterstützen. Explizit nennt das Ministerium Korrekturarbeiten, Recherche von Unterrichtsmaterial oder Betreuung von Lerngruppen als Aufgaben, die auch von zu Hause erledigt werden können. Klare Ansage: Auch, wer nicht vor Ort ist, muss den Unterricht unterstützen.

Ein großes Problem in der “Homeschooling-Phase” war, dass vielen Lehrenden nichts anderes einfiel als einmal die Woche ein paar Arbeitsblätter per Mail (oder gar per Post!) zu versenden. Das soll jetzt anders werden. Zum einen geben die Infomaterialien des Landes Eckpunkte vor, wie der Unterricht auf Distanz pädagogisch gestaltet werden soll. Diese sind

  1. So viel Empathie und Beziehungsarbeit wie möglich, so viel Tools und Apps wie nötig.
  2. So viel Vertrauen und Freiheit wie möglich, so viel Kontrolle und Struktur wie nötig.
  3. So viel einfache Technik wie möglich, so viel neue Technik wie nötig.
  4. So viel asynchrone Kommunikation wie möglich, so viel synchrone wie nötig.
  5. So viel offene Projektarbeit wie möglich, so viele kleinschrittige Übungen wie nötig.
  6. So viel Peer-Feedback wie möglich, so viel Feedback von Lehrenden wie nötig.

Im weiteren Verlauf des Dokuments werden weitere pädagogische Konzepte für den Distanzunterricht erläutert und eine Fülle von Tools, Webseiten  und Plattformen vorgestellt, die den digitalen Unterricht ergänzen können. Ich habe keine Erfahrung mit diesen Tools und kann darum nicht beurteilen, wie praktikabel die im Schulalltag sind. Vieles davon sind eigens für NRW entwickelte Produkte. Erfahrungsberichte über Tools mit lustigen, typisch deutschen Beamten-Akronymen wie Logineo, Edkimo, Qua-Lis und Co. dürfen gerne in die Kommentare gepostet werden. Jedenfalls sind auf diesen Angeboten schon erste Materialien extra für den Unterricht auf Distanz eingestellt worden, zum Beispiel dieses Konzept für Englischunterricht in der fünften Klasse.

Auch nützlich: Meine 10 Tipps für Videokonferenzen mit Grundschulkindern.

Engagierte PädagogInnen haben außerdem für KollegInnen auf Drittplattformen umfangreiche Linksammlungen für den digitalen Unterricht zusammengestellt, zum Beispiel in diesem Padlet. Ausreden gibt es eigentlich keine mehr.

Es wird Corona-Schließungen an Schulen geben

Insgesamt steht PädagogInnen damit ein reichhaltiges Arsenal zur Verfügung, um digitalen Unterricht gestalten zu können. Es ist alles da. Lehrende können sofort loslegen und tolle Konzepte und Ideen entwickeln, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Dass der eintreten wird, daran habe ich keinen Zweifel. Ob es in den nächsten Wochen an Schulen in NRW zu Schließungen kommen wird, ist nicht die Frage. Die Frage ist, wann, wo und in welchem Ausmaß es passieren wird. Mit den vom Land bereitgestellten Materialien sollten Schulen jedenfalls besser in der Lage sein, sich darauf auch vorzubereiten.

Bild von Luisella Planeta Leoni auf Pixabay